Es fängt bei Geburtstagen an und reicht bis zum großen Unabhängigkeitstag im Juli – Perú weiß sich zu feiern, im Kleinen wie im Großen. Meist übersteigt schon ersteres das Maß an Leidenschaft, Ausgelassenheit und vor allem Gewissenhaftigkeit, das ich von deutschen Feierlichkeiten gewohnt bin. Mitte Mai habe ich hier in Lima dem Muttertag und allem, was rundherum veranstaltet wurde, beigewohnt.
Erste Ankündigung der Feier war für mich eine pädagogische Konferenz in der Schule, die mit den Worten eröffnet wurde, dass man schon spät dran sei und endlich mit der Planung des diesjährigen Muttertages beginnen müsse. In den nächsten drei Wochen probten die Lehrerinnen und Lehrer mit jeder Klasse einen Tanz ein und verbrachten Pausen und Nachmittage mit dem Basteln von Geschenken und dem Schmücken der Räume mit sehr viel Rosa und Glitzer, sehr vielen Herzen und großen Bildern von Müttern und Babys.
Auch die Stadt wurde Stück für Stück immer pinker, desto näher der Muttertag kam. Auf den Straßen wurden Plastik-Herzen verkauft, Restaurants wurden geschmückt und jede größere Kette warb mit entsprechenden Sonderangeboten.
Am Freitag dann kamen wir zusammen, um die letzten Vorbereitungen für die Feier zu treffen und, gleich nachdem eine andere Schule vor uns auf dem Sportplatz ihre Stände und Lautsprecher abgebaut und Girlanden abgehängt hatte, unsere aufzubauen bzw. aufzuhängen. Mit vielen Luftballons und jeweils einem selbstgebastelten Anstecker wurden die Mütter und ihre Familien begrüßt. Das Programm bestand aus den Aufführungen der Klassen, beginnend bei den Dreijährigen der Vorschule. Zu Ehren der Mütter zeigten sie traditionelle und auch experimentellere Tänze in oft aufwendig verzierten Trachten.
Zuletzt überraschten auch die Lehrerinnen selbst noch mit einer Tanzeinlage. Abschließend folgte die Verlosung von „canastas“, mit Lebensmitteln und Haushaltswaren gefüllten Geschenkkörben, und die Ausgabe eines einfachen (aber wie gewohnt sehr leckeren) Abendessens.
Mich erstaunte das Ausmaß dieser Feier. Eifrig half ich wo ich konnte beim Auf- und Abbau. Während der Veranstaltung aber, wenn ich nicht gerade fotografierte oder von faszinierten Eltern fotografiert wurde, hing ich gedanklich dem Erstaunen nach, das die Ausgestaltung dieses ganzen Feiertags bei mir verursachte. Dabei wurde ich, ehe ich mich versah, meiner Rolle als jener Deutsche gerecht, der eher einmal zu viel misstraut als einmal zu viel feiert.
Eigentlich waren es nur Kleinigkeiten: Dass die Mütter selbst in den Wochen davor mit einer allzu bekannten Normalität die Extraarbeit für die Vorbereitung des Feiertags leisteten. Dass neben der emotionalen Kommerzialisierung auch die öffentlich propagierten, eindimensionalen Geschlechterrollen und Beziehungsformen ein Enge- und Ekelgefühl verursachten, dass sich in meiner Brust unmittelbar fortsetzte. Dass das grelle Pink der herzförmigen Luftballons an diesem Wochenende mehr Blicke auf sich zog als der von gewaltvollen Auseinandersetzungen zeugende Lärm aus dem Nachbarhaus an einem gewöhnlichen Wochenende. Dass die Mutter um ein vielfaches lauter und stolzer gefeiert wurde als vor wenigen Monaten die Frau am 8. März.
Also nein, eigentlich sind das für mich alles andere als Kleinigkeiten, doch hier in Lima fügen sie sich ein und gehen unter in einem Gesellschaftsentwurf, der anders ist als jener an den ich mich die letzten 19 Jahre gewöhnen durfte. Gestern kam ich mit einer Frau und Mutter, die seit einigen Wochen meinen Englischunterricht besucht, darüber ins Gespräch. Wie ihr Alltag, in den sie jetzt noch versucht, das Lernen einer Fremdsprache einzubringen, aussieht, konnte ich vorher nur als Mischung veralteter europäischer Geschlechterrollen, schwacher staatlicher Absicherung und hoher finanzieller Bedrängnis vermuten. Während früher die Aufgaben der Frau vor allem im Haushalt und der Kindererziehung bestanden hätten, während der Mann von früh bis spät seinem Beruf nachging, so erzählte sie mir, gingen die meisten Frauen heute im gleichen Maße Lohnarbeit nach, jedoch zusätzlich zur gewohnten Haus- und Carearbeit, die sie oft unverändert allein leisteten. Die Mütter machen so jene Arbeit, die für die Männer unsichtbar zu sein scheint. Der bestätigende Kontrast bieten sich mir, wenn Männer der Kirchgemeinde, in der ich im übrigen noch keine einzige Frau Sonntags predigen hörte, mir mit einem Lächeln erklären, dass, wenn sie zuhause mal kochen, es dafür umso leckerer sei. Weiter berichtete mir meine Gesprächspartnerin, wie in der Vergangenheit das Ringen um die Emanzipation der Frau oft die Belastung der Kinder erhöht hat. Am Ende seien sie es, um die sich zu wenig gekümmert werde, täten es die Frauen nicht. Versucht die Mutter neben der Arbeit zu studieren, oder ist sie finanziell dazu gezwungen nach der Trennung von ihrem Lebenspartner bis in die Nacht arbeiten, sind die Kinder es, die die Nachmittage unbeaufsichtigt verbringen. Auch unter den Schülerinnen und Schülern hier in Mariátegui ist das keine Ausnahme. Schlimmstenfalls ebnet das im Mangel an positiven Vorbildern, Angeboten und Alternativen den Weg in gefährliche soziale Umfelder, in Kriminalität, Drogen und die Gewalt auf der Straße.
Sehr beschäftigt mich ein jüngster Vorfall: Diese Woche, kurz vor dem Vatertag, wurden in Mariátegui nacheinander drei Jugendliche erschossen, vermutlich im Zusammenhang mit Gangkriminalität und Drogenhandel. In dieser Alltäglichkeit der Gewalt, Verzweiflung und Ungerechtigkeit schleicht sich schnell ein Fatalismus in fast jedes Gespräch über diese Themen. Ich kannte diese Jungen nicht, deren Ermordung Teil dieser drückenden Flut ist, aber seitdem frage ich mich einmal mehr, was mal aus den Kindern wird, die ich gerade täglich unterrichte.
Es stimmt mich hoffnungsvoll, dass die Schule Divina Misericordia und deren Lehrpersonal mit allen Anstrengungen versucht, die Kinder auf einen guten Weg zu bringen und ihnen damit zu einer vielversprechenderen Zukunft verhilft. Entsprechend bin ich froh, dass sie schon jetzt lernen, Mütter für ihre Leistung zu feiern. Aus meinen Gesprächen und Beobachtungen heraus wünsche ich mir für mich selbst und für alle Menschen, die ich hier bereits kennenlernen durfte, dass das Bewusstsein um diese soziale Rolle und ihre Relevanz weiter wächst.
Aber weiter hoffe ich, dass wir unsere politische Verantwortung in jeder sozialen Interaktion mehr in der Bemühung verstehen, einem jeden Menschen auch über seine soziale Rolle hinaus mit Anerkennung und Respekt zu begegnen und einander dazu zu verhelfen, ungerechte und gewaltvolle Normalitäten nicht unsichtbar zu machen, sondern zu durchbrechen.
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