Im letzten Newsletter, am 26. März, kündigte ich eine euphorische E-Mail für den Zeitpunkt an, zu dem die Schulbehörde unsere Schuldirektorin und Geschäftsführerin Elizabeth Castro als das anerkennen würde, was sie bereits seit 2006 ist: eben die Direktorin und Geschäftsführerin unserer Schule, die seit Jahresbeginn Divina Misericordia [Göttliche Barmherzigkeit] heißt.
Es ist so weit, wir dürfen jubeln! Kopien der beiden Dokumente liegen mir vor. Damit sind unsere langjährigen Behördenprobleme gelöst – ich kann es kaum fassen.
Dieses lange und schwierige Kapitel, das unser Werk nach über 28 Jahren zuletzt beinah zum Scheitern gebracht hätte, haben wir ausführlich im letzten Rundbrief und in den E-Mail-Newslettern des letzten Jahres dokumentiert, die auch ► auf unserer Homepage nachzulesen sind:
Jetzt haben wir endlich juristisch klare Verhältnisse. Elizabeths Beharrungsvermögen und ihre Strategie mit dem Kauf der Betriebserlaubnis einer anderen Schule haben zum Ziel geführt. Wir müssen nicht mehr befürchten, dass unsere Arbeit durch Behördenwillkür in Gefahr gebracht wird, und können jetzt endlich nach vorne blicken und neue Projekte ins Auge fassen. Die Betriebserlaubnis ist allein unsere Betriebserlaubnis (d.h. wir teilen sie nicht etwa mit einer anderen Schule, was auch eine – weniger gute – Möglichkeit gewesen wäre) und sie umfasst Vor- und Grundschule (und nicht nur Grundschule, wie zuerst im Raum stand). Damit haben wir also genau das, was wir brauchen.
Ich bin unendlich erleichtert und froh. Es wäre wirklich zu bitter gewesen, wenn wir gescheitert wären. In Deutschland sind wir ein großer, innig mit diesem Werk verbundener Personenkreis (was nie deutlicher zu spüren war als im vergangenen Krisenjahr, als alle trotz der bedrohlichen Nachrichten ihre Unterstützung fortsetzten und sogar zu hohen Sonderspenden bereit waren), und in Perú ist die Arbeit in den letzten Jahren unter Elizabeths Führung immer besser und professioneller geworden. Wie hätte man da aufgeben wollen?
Auch Elizabeth ist natürlich sehr glücklich über diesen Erfolg – im Gegensatz zu mir aber schon seit Anfang des Jahres, denn seither war sie sich schon ganz sicher, dass es so klappen würde. (Ich hingegen wollte erst das Dokument in den Händen halten.)
Das hat sich auch auf unsere wöchentlichen Telefonate ausgewirkt. Wie oft mussten wir uns letztes Jahr gegenseitig Mut zusprechen, und wie oft erlebte ich sie fast am Ende ihrer Kräfte und der Verzweiflung nahe, weil alles Ringen nichts nützen wollte, weder Anträge und Petitionen noch Strafanzeigen und Beschwerden zeigten irgend eine Wirkung. Die Behörden blieben stur (und blind für die Tatsachen), die Eltern, deren Kinder nicht ordnungsgemäß eingeschrieben waren, zahlten ihre Schulgebühren nicht und manche beschimpften Elizabeth gar als Betrügerin. Jetzt geht es in unseren Telefonaten nicht mehr um diese Art von Problemen, sondern um die Arbeit der Schule, und davon möchte ich auch Euch in der Folge berichten.
Wir haben dieses Jahr 312 Kinder in drei Vorschul- und sechs Grundschulklassen (eigentlich sieben, denn die zweite Klasse ist zweizügig), davon 25 Kinder mit physischen oder psychischen Besonderheiten, die in unserer Schule nach dem Inklusionsprinzip gemeinsam mit den anderen Kindern unterrichtet und zusätzlich an zwei Tagen der Woche durch eine Fachkraft betreut werden. Dabei arbeitet Elizabeth mit dem deutschen Pastorenehepaar Andrea und Albrecht Hartel zusammen, die im Rahmen ihrer Gemeindearbeit in einem anderen Teil von San Juan de Lurigancho auch Projekte mit behinderten Kindern realisieren. Die Arbeit mit den "besonderen Kindern", wie man sie in Perú früher nannte, bzw. "Kindern mit verschiedenen Begabungen", wie man jetzt sagt, liegt Elizabeth besonders am Herzen. Die Lage dieser Kinder ist in den Armutsgebieten besonders prekär: In den staatlichen Schulen "liegen diese Kinder auf dem Hof herum", wie eine Lehrerin bei meinem letzten Aufenthalt konstatierte. Die Klassen sind dort hoffnungslos überfüllt, die Lehrkräfte überfordert und demotiviert. "Das staatliche Schulsystem ist kollabiert", sagte Elizabeth neulich. Die privaten Schulen wiederum nehmen solche Kinder häufig einfach nicht auf, weil sie zusätzliche Arbeit machen und weil andere Eltern dann drohen, ihre Kinder von der Schule zu nehmen. Auch Elizabeth wurde von manchen Eltern angesprochen, sie solle doch so problematische Kinder (z.B. Kinder mit psychischen Problemen) nicht aufnehmen. Denen erklärte sie, dass unsere Schule vor allem für die besonders benachteiligten Kinder da ist, also gerade für solche Kinder. Es gibt natürlich auch private Sonderschulen, die auf Kinder mit derartigen Besonderheiten spezialisiert sind. Die meisten Familien in Mariátegui können sich eine solche Schule aber nicht leisten. Es gibt zum Beispiel eine, die ein paar Kilometer stadteinwärts gelegen ist, wo die Schulgebühr 300 Soles im Monat (ca. 84 Euro) beträgt – das fünffache der Gebühr, die unsere Schule erhebt (60 Soles, ca. 17 Euro). Zu den Schulgebühren kommen dann noch die täglichen Fahrtkosten. Ein Junge mit Downsyndrom wurde von seiner Mutter aus dieser Schule in unsere Schule umgemeldet. Vor ein paar Tagen sagte die Mutter zu Elizabeth, der Junge habe in den beiden Monaten bei uns mehr Fortschritte gemacht als in einem ganzen Schuljahr in der anderen Schule.
Ich bin mit Elizabeth völlig einer Meinung, dass die Arbeit mit diesen Kindern ein ganz wichtiger Schwerpunkt für unsere Schule sein und auf jeden Fall weiter ausgebaut und verbessert werden soll. Ich denke, das wird bei Elizabeths Rundreise im nächsten Jahr ein großes Thema sein. Wenn wir hoffentlich bald anbauen, dann barrierefrei. Es soll auf jeden Fall einen Raum speziell für therapeutische Arbeit geben, und die Unterstützung der Lehrkräfte durch therapeutisch ausgebildetes Personal soll auch ausgebaut werden, denn daran mangelt es heute noch sehr.
Elizabeth ist in diesem Schuljahr wieder regelmäßig während des Unterrichts in der Schule anwesend. Das konnte sie letztes Jahr nicht, weil sie fast täglich zu Behörden musste. Nun wacht sie wieder selbst über Pünktlichkeit (vor allem der Lehrkräfte) und Sauberkeit (z.B. der Toiletten) und berät Eltern persönlich. Viele Eltern vernachlässigen ihre Kinder und fördern sie überhaupt nicht. Die Kinder kommen dann morgens ohne Schulutensilien zum Unterricht. Elizabeth wendet in diesen Fällen eine doppelte Strategie an: Sie spricht mit den Eltern, ermahnt sie, ihren Verpflichtungen gegenüber den Kindern nachzukommen. Und sie hilft den Kindern, gibt ihnen Papier und Schreibzeug, denn sie sollen die Unzulänglichkeiten ihrer Eltern nicht ausbaden (aber sie müssen es natürlich doch).
Besonders mit den Eltern der Kinder, die besondere Unterstützung benötigen, muss Elizabeth viel sprechen. Es kommt vor, dass die Eltern nicht einsehen, dass ihre Kinder Probleme haben. Die Mutter eines Jungen mit einer autistischen Störung sagte: "Ist mein Sohn etwa bekloppt? – Das darf mein Mann auf keinen Fall erfahren, sonst schlägt er uns beide tot!" Elizabeth sprach mit dem Vater, der sich dann doch verständiger zeigte als die Mutter es erwartet hatte. Er sagte: "Gut, wenn der Junge Hilfe braucht, dann müssen wir ihm helfen."
Elizabeth sagt: "Die Erfolge dieser Kinder geben mir Kraft."
Vor drei Wochen mussten wir unser samstägliches Telefonat abkürzen, denn Elizabeth wollte zur Beerdigung des Vater von drei Kindern, die in unsere Schule gehen. Der Vater war Mitte zwanzig und einst selbst in unsere Vorschule gegangen. Die Mutter seiner Kinder ließ ihn mit den Kindern sitzen. Er kam auf die schiefe Bahn und ins Gefängnis und geriet dort in eine Schlägerei unter Gefangenen, bei der er tödlich verletzt wurde. Die Kinder leben bei seiner Mutter, die nicht lesen und schreiben kann und mit der Situation überfordert ist. Elizabeth berät die Frau, so gut sie kann. Die Kinder sind von den Schulgebühren befreit.
Ihr seht schon, wir sprechen auch jetzt bei unseren Telefonaten viel von Problemen. Aber das sind jetzt endlich wieder die Probleme, für die wir da sein wollen, und nicht vollkommen sinnlose Probleme mit der entsetzlich unfähigen und korrupten Bürokratie. Darüber bin ich sehr glücklich.
Auch die Lehrerinnen sind froh und erleichtert, dass die Behördenprobleme vom Tisch sind. Die Lehrerin Ana (3. Klasse) schrieb mir: "Wir fühlen uns jetzt sicher in der Schule." Und Luz-María (Dreijährige): "Es herrscht jetzt Einigkeit zwischen Lehrern und Eltern, und alle vertrauen dieser Institution, die letztes Jahr auch uns vertraut hat."
Ein aktueller Satz noch von Elizabeth: "En el Colegio se respira paz." ["In der Schule atmet man Frieden."]
Damit möchte ich es in diesem Newsletter bewenden lassen. Wenn sich nicht besonderes ereignet, will ich im Herbst wieder schreiben. Dann sollte es um die Planung von Elizabeths Deutschlandbesuch im kommenden Jahr gehen – und um die Mitgliederversammlung mit 30-Jahr-Feier am 2. Mai 2020 in Nehren.
Bitte bleibt weiter dabei, damit wir alle gemeinsam in eine neue Phase der Arbeit von El Buen Samaritano e.V. eintreten können!
Es grüßt sehr herzlich (und froh)
Ihr/Euer
Holger von Rauch
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Fortsetzung: ► Der Newsletter vom 28. Oktober 2019